Archiv für März 2011

Liebesgrüße aus Tripolis – Die Geisterfahrt der deutschen Regierung in der Libyenfrage

Die Ereignisse in Nordafrika sind zum Prüfstein für die europäische Außenpolitik geworden. Ergebnis: Die Europäische Union ist einmal mehr nicht in der Lage, eine gemeinsame außenpolitische Position in einer internationalen Krisensituation zu formulieren und zu vertreten.  Während französische und britische Streitkräfte in Libyen operieren, bleiben die deutschen ECR (Electronic Combat Reconnaissance) Tornados – Hochwertwaffensysteme im Kampf gegen die strategischen Luftverteidigungskräfte Libyens – am Boden. Gleichzeitig sorgt die Haltung der deutschen Regierung für Irritation bei den europäischen und internationalen Verbündeten. Dafür bekommt Westerwelle Beifall aus Tripolis und befindet sich damit in Gesellschaft Russlands und Chinas. Diese hatten sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat ebenfalls enthalten. Eine Enthaltung die im Falle Deutschlands nicht nötig gewesen wäre, denn obgleich das Stimmverhalten der Vertreter der BRD im Sicherheitsrat an ministerielle Weisung gebunden ist, entscheidet doch letztlich der Bundestag über die Entsendung von Streitkräften. Die Bedeutung der Libyenkrise für die Außenpolitik der Europäischen Union reicht indes viel weiter. Die Weigerung der deutschen Regierung kommt einer Geisterfahrt im Konzert der Mächte gleich.

Libyen gehört, ähnlich wie die übrigen nordafrikanischen Staaten, zur engeren Interessensphäre der Europäer. Dabei geht es nicht um eine klassische Kolonialmentalität – im Gegenteil. Vom Wohlergehen der Länder südlich des Mittelmeers wird Europa im 21. Jh. ähnlich abhängig sein, wie von der Prosperität der Balkanstaaten. Einerseits geht es um Märkte für europäische Produkte, andererseits um die Gefahr von Flüchtlingsströmen für die europäischen Sozialsysteme. Darüber hinaus spielen Energiesicherheit und die Gefahr der Entwicklung terroristischer Bedrohungen eine, wenn auch untergeordnete Rolle. Nicht zuletzt geht es ebenso um die europäische Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt vor dem Hintergrund von AFG, Irak und den Beifallsbekundungen zu den Volkserhebungen in Nordafrika. Daher muss Europa die Bedingungen der Entwicklung dieser Staaten bewusst gestalten. Failed States und Bürgerkriege an der europäischen Peripherie sind in jedem Falle schlecht. Deshalb war die Beteiligung der Europäer über die NATO an der Balkanintervention (im Gegensatz zum AFG Einsatz) ebenso richtig und notwendig wie es jetzt wenigstens ein koordinierter gesamteuropäischer Beitrag im Falle Libyens wäre.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Das Verhalten der deutschen Regierung führt zu einer Situation, in der die Europäische Union ihrer eigentlich ganz natürlichen Rolle als Ordnungsmacht im eigenen Vorgarten nicht gerecht werden kann. Doch wer dann? Schon wollen die USA das Kommando an die NATO übertragen, doch auch die ist wegen der Weigerung der Türkei dazu nicht bereit. Kein Wunder, weder Washington noch Ankara haben sonderliches Interesse am Schicksal Libyens. Die NATO ist primär keine Organisation zur militärischen Durchsetzung europäischer Interessen. In der Tat: So eine Organisation existiert nicht und deshalb wird das Kommando über die Operationsführung in Libyen spätestens Ende dieser Woche auf Frankreich oder Großbritannien übergehen müssen.

Europa hat bei der Herstellung einer eigenen integrierten Sicherheitsarchitektur bis auf den heutigen Tag sträflich versagt. Nach der Verfehlung des European Headline Goal 2003,  dessen Erreichung zumindest eine eigene EU-Eingreiftruppe, wenn auch unter Nutzung der NATO Kommandostruktur bedeutet hätte, wurden ab 2004 die sog. EU Battlegroups aufgestellt. Bei diesen handelt es sich allerdings um bloße Infanterieverbände in geringer Stärke die eher im Stile eines Pilotprojekts daher kommen. Diese beklagenswerte Situation ist das Produkt einer inkonsequenten Europäisierung der Sicherheitspolitik. Es geht nicht darum, die nationalen Armeen Europas abzuschaffen, aber wenigstens darum, ein europäisches Kräftedispositiv à la NRF zur Verfügung zu halten und eine eigene Kommando- und Führungsstruktur zu schaffen.

Vor diesen Maßnahmen muss jedoch eine Grundsatzentscheidung über die außenpolitischen Ziele der Europäischen Union erfolgen. Diese erfordert wiederum ein Bewusstsein für die gegenseitige Abhängigkeit der europäischen Staaten und die Anerkennung eines daraus resultierenden Bedürfnisses nach kollektiver europäischer Sicherheit. Die NATO allein ist hierzu nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr länger das richtige Werkzeug, da mit der Systemgrenze auch die sicherheitspolitische Relevanz Europas für die USA nahezu verschwunden ist und Washington den Verteidigungshaushalt nach dem absoluten Overstretch in den Jahren nach 9/11 und unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise wird verkleinern müssen.

Mit der Forderung nach europäischen Streitkräften und einer echten europäischen Sicherheitspolitik ist zugleich die Maximalforderung europäischer Souveränität formuliert. Diese liegt allerdings in weiter Ferne. Die Haltung der deutschen Regierung in der Libyenfrage beweist dies nicht nur, sondern fördert das Problem noch weiter.